Teil 2 der Rede von IGOR KROITZSCH:
„An dieser Stelle komme ich nun auf ANKE MEIXNER zu sprechen, die aus Hanfschäben – einem Abfallprodukt der Fasergewinnung – und Weißkalk einen naturmaterialen Mix des Baustofflichen schafft, den sie nachfolgend in die Landschaft punktuell einbringt. Auf jener Seite einer Mutterbodenmiete, die zufällig parallel zum einstigen Bahndamm liegt, diesen dadurch impliziert. Doch die kreisrunden Taler, welche sich dem Blickfeld darbieten, enthalten eine Botschaft in Brailleschrift.
Der Sehende sieht sie, vermag sie jedoch aufgrund seiner Unkenntnis nicht zu entziffern; der Blinde kann – da die Punkte weit auf der abrutschgefährdeten Hangfläche ausliegen – das Alphabet nicht unmittelbar ertasten, um den Sinn buchstäblich aufzufinden, weshalb es einer ungewöhnliche Kooperation bedürfte, um die Aussage inhaltlich gemeinsam zu ermitteln. Die da lautet – ich verrate sie hiermit – „Und nur die Liebe überwindet alles“.
Als Dramatiker betone ich den besonderen Stellenwert von „Und“. Denn dieses kleine Wörtchen benennt ein Davor, welches in diesem Falle ungenannt bleibt, aber mitgedacht werden müßte. Keine politische Losung beginnt mit einem Und. Weil das abschwächend wäre durch das Ungewisse, welches diese drei Buchstaben – als eine ‚Verbindungsbrücke‘ – gegenüber dem Nachfolgenden zu ‚transportieren‘ hätten. Ein gesondertes Kapitel der Sprache über die F o r m in der Landschaft.
Unweit liegt das einzige baulich verbliebene Relikt des leider abgerissenen Bahnhofs, der den Umstand des Wartens impliziert. Und ‚freilich‘, Wartende verewigten sich hier, oder gelangweilte Jugendliche des Ortes, mittels unkoordinierter Graffiti. Diese achtlosen Überschreibungen verwischen die eigentümlich banalen ‚Nachrichten‘ der jeweiligen Vorgänger. Hier greift MARIANNE GIELEN künstlerisch zu. Auf die wilden Farbüberlagerungen der Wände setzt sie im Innenraum quadratische Tafelbilder, die auf L e i n wand gemalt sind. Ein Verxierspiel scheinbarer Verschmelzungen sowie deren Abhebungen, zwischen dem unkünstlerischen Hintergrund und einem ästhetisierenden Vordergrund, tritt korrespondierend gekonnt ein. Doch der konzeptionelle Ansatz findet eine Steigerung. Denn die Bilder selbst praktizieren das Prinzip unendlicher Übermalungen von Tags. Ein Art Informel entsteht, verweist zurück auf den vorgängigen profanen ‚Gehalt‘ der Schmierereien, um anders zu ‚antworten‘. Ein Sonderfall von Kunst und Nichtkunst, vielleicht geadelt als Gesamtkunstwerk.
Außen finden sich von Marianne Gielen größere Bilder, die das Gebäuderudiment ‚umfassen‘, wo das Künstlerische sich deutlicher behauptet. So tritt der ‚Eigenwert‘ des Schöpferischen stärker hervor, unangefochtener wie ich sagen möchte, abermals verdeutlichend, daß die schier ununterscheidbare Vielheit der Krakelketten – ohne narrative Botschaften – etwas zitiert, welches dem unverständlichen Alltäglichen angehört.“