Fachleute staunten über die Schlagzeile „Gefahr durch herabfallende Ziegel an alter Papierfabrik“ in Fretzdorf bei Wittstock. Dies schrieb Märkische Allgemeine Zeitung (MAZ) am 4. April 2022. Besorgte Eltern und Politiker forderten eine Sicherung der Bauruine durch den Landkreis. Inzwischen ist laut MAZ vom 10. Februar 2023 klar: „Dach-Sanierung für alte Papierfabrik kommt.“ Doch gab es in Fretzdorf eine Papierfabrik? Die Antwort lautet: Jein. In Fretzdorf wurde kein Papier hergestellt, sondern lediglich importiertes Papier konfektioniert. Die Fasern dafür wurden also nicht in der Region verarbeitet.
Verantwortlich für diesen Betrieb war das Versorgungskontor Papier und Bürobedarf Berlin in der Mühlenstraße 11. Eine Abteilung davon siedelte sich ab etwa 1966 in dem Speicher der stillgelegten Getreidemühle Scherz an der Fretzdorfer Dorfstraße an. Es bekam große Papierrollen ganz unterschiedlicher Sorten, die hier in verschiedene Formate geschnitten und verpackt wurden. Die Herkunft dieser Papiere ist unklar. Angeliefert wurden die Papierrollen per Bahn, in einer Lagerhalle am Bahnhof Fretzdorf zwischengelagert und dann mit Traktor und Anhänger zur „Fabrik“ gebracht, berichtete der Fretzdorfer Karsten Modl. 1990 wurde der Betrieb eingestellt, im Dorf aber blieb es die „Papierfabrik“, zumal „Papier“ bis heute auf einem Firmenschild an der Fassade zu lesen ist. Daneben prangt das seit 1967 von den Versorgungskontoren in der DDR eingeführte Emblem „VH“ für „Versorgung Handel“.
Um 1953 waren in den DDR-Bezirken verschiedene Lager für Konsumgüter entstanden, von denen aus der Vertrieb in den Einzelhandel organsiert wurde, schreibt das Museum Pankow in einem kleinen Beitrag zu einem alten Glasschild (Internet: berlin.museum-digital.de/object/737). Ab 1957 erhielten diese Depots den Namen Versorgungskontor – so auch das Versorgungskontor Bürobedarf mit Hauptsitz in der Berliner Mühlenstraße. Es verfügte seit dem Ende der 1950er Jahre über einen Betriebsteil II in der Marienstraße in Berlin-Buchholz. Insgesamt waren im Versorgungskontor mehr als 150 Menschen beschäftigt. Außer Bürobedarf vertrieb das Unternehmen auch Ansichtskarten und Tapeten – und bezog einen Teil der Ware aus Fretzdorf. Das Berliner Versorgungskontor und die örtliche LPG „Friedrich Engels“ hatten die Rechtsträgerschaft für die Mühle dort übernommen. Dies schrieb Kurt Feick 2001 in seiner Chronik: „700 Jahre Fretzdorf, 1304–2004, ein Beitrag zur Ortsgeschichte“.
Die Scherz’sche Wassermühle liegt an einem quer durch das Dorf führenden Arm der Dosse. Wie Feick in seiner Chronik weiter ausführte, baute Eduard Albrecht Ludwig Scherz (1826–1885) die Mühle nach einem Brand 1851 im selben Jahr neu: Dieser Fachwerkbau, später „Alte Mühle“ genannt, wurde 1979 abgerissen. Denn schon 1871 hatte Scherz seinen Betrieb auf der anderen Seite des Dossearms um die Neue Mühle erweitert, einige Jahre später um den großen Speicher (1914 erweitert, später „Papierfabrik“) und sein Wohnhaus (heute Kindertagesstätte) ergänzt. 1912 bekam die Mühle zudem einen Gleisanschluss. Wie sich Karsten Modl erinnert, führte das Gleis vom Bahnhof aus in einem Bogen auf dem heutigen Mühlenweg durch das Dorf, auf einer eisernen Brücke über das Unterwasser der Mühle (Standort der heutigen Fußgängerbrücke), knapp am Haus Fretzdorfer Dorfstraße 23 (mit abgeschrägter Hausecke) vorbei und endete am großen Speicher.
Angetrieben wurde die Mühle durch zwei Wasserturbinen, seit 1886 durch eine im Anbau der Neuen Mühle aufgestellte Dampfmaschine unterstützt (1925 durch einen großen Dieselmotor ersetzt). 1926 verarbeitete die Mühle etwa 30 Tonnen Roggen und Weizen pro Tag, etwa 16 Personen waren dort beschäftigt. 1965 war der Betrieb nach langem Niedergang in der Nachkriegszeit pleite und wurde von der LPG, zum Schroten von Getreide, und dem Versorgungskontor übernommen.
Seit langem aber verfällt die leerstehende Immobilie; dem Vernehmen nach verunglückte einer der Eigentümer bei Sanierungsarbeiten tödlich. Der Landkreis sicherte den Speicherbau zur Straße hin mit einem Bauzaun, was einigen Bürgern wegen der benachbarten Kita und der Bushaltestelle dort aber nicht ausreicht. Deshalb wird das Dach nun laut MAZ vom 10. Februar mit einem Sicherheitsnetz vesehen.