Eine Hanfspinnerei in Genthin

Der Briefkopf von 1915 zeigt das ausgedehnte Werksgelände der Genthiner Cement-Baugesellschaft „Reichspatente“ GmbH mit dem damaligen Hafenbecken am Plauer Kanal (links), dem Hochbau der späteren Hanfspinnerei und dem Gleisanschluss (Hintergrund), weiteren Gebäuden und der Fabrikantenvilla (rechts) an der heutigen Mühlenstraße 44. Quelle: Kreismuseum Jerichower Land, Genthin

Am Elbe-Havel-Kanal in Genthin blieb bis heute ein auffallend rotes Ziegelgebäude des Historismus erhalten, welches allgemein als Hanfspinnerei oder auch als „Strippenbude“ bezeichnet wird. Ein Blick in Archivalien des örtlichen Kreismuseums Jerichower Land – Zeitungsartikel, Akten und ein Brigadebuch – offenbart die vielfältige Geschichte dieser Fabrik. Hanf aus der Region wurde hier aber kaum verarbeitet.

Der Fabrikbau geht auf die 1886 vom gleichnamigen Maurermeister gegründete Zementfabrik Paul Stolte AG zurück, schrieb der Stadtarchivar John Kreutzmann am 16. Oktober 1992 in der Zeitung Volksstimme. Stoltes Bauunternehmen war vor allem auch ein überregional präsenter Hersteller für Fertigteile aus Beton: Für deren Produktion benötigte er den mehrgeschossigen Fabrikbau. 1890 ließ Stolte in der Nähe der Fabrik in der heutigen Mühlenstraße 44 sein Wohnhaus bauen. 1897 gründete Stolte dann die Deutsche Zementbaugesellschaft mit Sitz in Berlin (Dessauer Straße) und beantragte 1898 den Bau des markanten Fabrikgebäudes in Genthin. 1920 verlegte sein inzwischen als Genthiner Cement-Baugesellschaft „Reichspatente“ GmbH firmierendes Unternehmen seinen Sitz nach Parey – und stellte 1922 seinen Betrieb ein.

Details der folgenden Jahre sind unklar: Seit 1920 gab es hier nach Angaben von Kreutzmann die Genthiner Metallwerke GmbH, seit 1922 die Genthiner Farbwerke GmbH (bis 1936), ebenso aber auch die Genthiner Kartonpapierfabrik GmbH (Berlin). Die Immobilie letzterer Firma – wohl nur ein Teil des viel größeren Betonwerk-Areals – übernahm 1929 die Hanfspinnerei Mahndorf AG, schrieb Stefan Menzel am 22. Januar 2020 in der Volksstimme. Die J.H. Findeisen AG hatte das Unternehmen am 12. April 1923 in Bremen-Mahndorf für die Fabrikation von Seilerwaren und Tauwerk gegründet. Die Verwaltung blieb auch nach dem Umzug der Produktion in Bremen. Das Unternehmen gehörte zur Hanfspinnerei Baumhüter GmbH in Batenhorst bei Wiedenbrück (Westfalen) und firmierte dann als Hanfspinnerei Baumhüter AG, Genthin. Dies geht aus einer vom Unternehmen selbst verfassten „Charakteristik“ vom 16. Januar 1954 hervor.

Detaillierte Aufzeichnungen über die Produktion liegen erst für die Nachkriegszeit vor. Danach übernahm die VVB Bastfaser Leipzig 1951 treuhänderisch den Betrieb mit einer Fläche von 121,73 Ar, ehe die Firma vom Rat der Stadt Genthin verwaltet und zum 1. April 1953 an den VEB Feinjute- und Hanfspinnerei Brandenburg verpachtet wurde. In den 1970er Jahren wurde der Betrieb Genthin Teil der des VEB Textile Verpackungsmittel Weida, Werk Brandenburg. Zwischen 1953 und der Stilllegung 1990 beschäftigte das Werk im Drei-Schicht-Betrieb etwa 120 bis 145 Mitarbeiter.

Die Fabrik stellte bis 1945 im Dreischichtsystem Erntebindegarn aus sogenanntem Sisal-Hanf her, außerdem Hanfgarn für Seilereien und andere Betriebe – vermutlich mit importierten Rohstoffen. Wegen des Mangels an Faserrohstoffen nach dem Weltkrieg stellte die Hanfspinnerei von 1949 bis 1951 Erntebindegarn auch aus (Spinn-)Papier her – etwa 180 Tonnen pro Jahr. Für die anderen Garne wurden bis 1949 Flachs- und Hanflangfasern aus Deutschland, dann aber auch aus Jugoslawien und der Sowjetunion als Rohmaterial verwendet. Dies war aber nur ein Notbehelf, weil (die deutschen) Weichfaser-Pflanzen in der Produktion erhebliche Schwierigkeiten machten und zu Qualitätseinbußen führten. „Die Verarbeitung „unseres deutschen Hanfes muss wegen der schlechten Qualität abgelehnt werden“, hieß es in der Firmencharakteristik von 1954.

Die Maschinen seien für eine Hartfaser-Verspinnung eingerichtet, weshalb sich Sisal- und Manila-Hanf am besten eignen würden. Ab 1950 gelangen allmählich wieder Importe von Sisal-Hanf aus Manila, China und Sisal (Halbinsel Yucatán, Mexiko), ebenso aus der Sowjetunion, Italien, Jugoslawien und Frankreich, später auch aus Afrika und Brasilien. Das Rohmaterial wurde einmal im Jahr per Seeschiff angeliefert und dann sukzessive von der Fabrik abgerufen.

Das Werk lag nicht nur am Kanal, sondern hatte auch einen eigenem Gleisanschluss. In den schwierigen Nachkriegsjahren war die Kapazität kaum ausgelastet. So wurden 1948 nur 101 Tonnen, zwei Jahre später dann 364 Tonnen Erntebindegarn (aus Papier!) und Hanfgarn gesponnen. 1951 waren es 421 Tonnen und 1953 schon 610 Tonnen. Seit 1954 stellte das Werk aus Hanf etwa 1.100 Tonnen Bastfasern pro Jahr her. Die Produktion von Erntebindegarn war schon 1950 an die Jutespinnerei und Weberei Ostritz (Oberlausitz) verpachtet worden und wurde dann verlegt.

Wie aus einem 1959 vom Werk erstellten Brigadebuch hervorgeht, wurde „zur besseren Ausnutzung der Räumlichkeiten“ von 1957 bis 1959 auch Flachswerg zu Garn verarbeitet. Dafür wurden „eigene Rohstoffe“, Reste aus der Flachsfaserverarbeitung, eingesetzt. Doch die dafür benötigte Kardiermaschine ging kaputt, die Produktion wurde eingestellt. Außerdem begann man mit der Herstellung von Kabelgarn aus einheimischen Rohstoffen für den VEB Kabelwerk in Berlin-Köpenick: 1959 waren es 200 Tonnen. Das Hauptprodukt aus Hanf, die Seilergarne, versendete die Hanfspinnerei an Seilereien, Genossenschaften und private Abnehmer, unter anderem für den Export, die Hochseefischerei und Bergwerksbetriebe.

Nach der Stilllegung 1990 wurde das Betriebsgelände dem Alteigentümer rückübertragen. Anschließend war dort vorübergehend die Genthiner Fensterwerke GmbH ansässig, welche 2002 in das Gewerbegebiet Nord zog. 1995 kaufte die Genthiner Tür-Control-Systeme GmbH (TCS) nach eigenen Angaben die Immobilie, sanierte den Altbau in der Geschwister-Scholl-Straße 7 und nutzt ihn seit 1999 als Hauptsitz und Produktionsstätte.

Maria Schiemann war Schichtleiterin und 1955 ausgezeichnete Aktivistin in der Hanfspinnerei Genthin: Das Foto zeigt sie an einer Spinnmaschine. Quelle: Kreismuseum Jerichower Land, Genthin
Zum 10. Jahrestag der DDR-Gründung 1959 gab das Werk Genthin des VEB Feinjute- und Hanfspinnerei Brandenburg ein Brigadebuch heraus, in dem dieses Foto enthalten ist. Quelle: Kreismuseum Jerichower Land, Genthin
Der Bau der Hanfspinnerei in der Geschwister-Scholl-Straße 7 in Genthin war 1898 für die Produktion von Zementwaren errichtet und 1904 um den Treppen- und Aufzugsturm ergänzt worden. Foto: Sven Bardua

4 Gedanken zu „Eine Hanfspinnerei in Genthin“

  1. Das Gebäude weist große Ähnlichkeiten mit dem Lumpenhaus der Papierfabrik Hohenofen und mit der Ofenfabrik (heute Ofenmuseum) in Velten auf. Das war offenbar zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein „Typenbau“. Interessant wäre, zu recherchieren, wo es noch weitere Gebäude dieser Bauart gab und gibt.

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    • Ich denke, das Lumpenhaus in Hohehofen ist ev. älter, zumindest aber nicht so „historisierend“, sondern in seiner Bauweise auf die Funktion reduziert, ohne Türmchen etc. Das finde ich so schön am Lumpenhaus, auch wenn sich die Backsteinbauweise mit den Fenstern sonst sehr ähnelt.

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  2. Die äußere Form ist für meine Begriffe eine Mischung aus spätklassizistischer Burgen-Architektur und norddeutschem Backsteinrohbau. Ein naheliegendes Vorbild ist das Empfangsgebäude des Bahnhofs Genthin von 1846. Aber auch der Bahnhof Templerbend im Westen von Aachen von 1858 hat mit seinen Türmchen eine gewisse Ähnlichkeit, ebenso wie die Ravensberger (Flachs-)Spinnerei in Bielefeld von 1857. Sie sind aber alle deutlich älter als der 1898 errichtete Bau der Hanffabrik in Genthin.
    Wie die Bahnhöfe und im Gegensatz zu Spinnereibauten (zum Beispiel im Münsterland) hat die Hanffabrik relativ kleine Fenster. Offensichtlich war die Belichtung bei der Herstellung der Zementwaren nicht so wichtig. Die Konstruktion drinnen ist klassisch für Fabrik-Hochbauten des 19. Jahrhunderts mit (guss-)eisernen Stützen und schmiedeeisernen Doppel-T-Trägern.
    Das Lumpenhaus in der Papierfabrik Hohenofen ist von 1905/06, das Museum in Velten sitzt in der 1872 erbauten Ofenfabrik A. Schmidt, Lehmann & Co..

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    • Ich meine mit „Ähnlichkeit“ die Gebäudegrundstruktur: geräumige Bauten mit sehr flachem Satteldach, in Genthin und Velten 12-achsig, in Hohenofen 14-achsig, in Genthin und Hohenofen durch mittige Treppentürme, in Velten durch ein Mittelrisalit strukturiert. Außerdem die vollen Geschosshöhen der unteren Etagen und die niedrige Etage unter dem Dach.
      Schade, dass man hier keine Fotos hochladen kann.

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