Reißwolle aus dem Raum Wittstock

Die Begriffe Recycling und Nachhaltigkeit wirken so modern – dabei sind die Prinzipien uralt. Vor allem zu „schlechten Zeiten“ hat die Wieder- oder Weiterverwertung von altbrauchbaren Materialien eine große Rolle gespielt. Auch wenn Naturrohstoffe aus anderen Gründen knapp waren, sah man sich die Produkte daraus im Hinblick auf eine Wiederverwertung genauer an.

Die Hinweise auf die Reißwoll-Produktion im Raum Wittstock sind spärlich. Doch die Tuchfabriken der Gebrüder Draeger, Friedrich Paul und Friedrich Wilhelm Wegener in Pritzwalk und Wittstock haben zumindest im Ersten Weltkrieg wegen des Rohstoffmangels im großen Stil Reißwolle (Kunstwolle) verarbeitet – auch wenn der in der Branche einflussreiche Draeger-Firmenchef Günther Quandt „solche maschinenschädlichen Beimischungen“ noch 1915 hinauszögern wollte, wie Joachim Scholtyseck in „Der Aufstieg der Quandts“ (München 2011) schreibt. Die minderwertigen Surrogate, hätte Quandts Abteilung 1916 moniert, würden mit den Friedenqualitäten „auch den schonendsten Vergleich“ nicht aushalten. Dennoch stieg der Anteil der Reißwolle in den deutschen Tuchen mangels Rohstoffen bis Frühjahr 1917 auf 70 Prozent. Auch zwei Jahrzehnte später, im Dritten Reich, wurde viel Reißwolle eingesetzt: So wurden 1938 im Deutschen Reich etwa 60.000 Tonnen Reißwolle erzeugt, aber nur etwa 7.800 Tonnen Schurwolle.

Doch woher kam diese Reißwolle? Dazu finden sich bei Scholtyseck zwei Angaben: „Die während des Krieges von den Draeger-Paul-Wegener-Werken übernommenen und technisch veralteten Kunstwollwerke Scharfenberg im Süden Wittstocks entwickelten sich mit einem Reingewinn (…) ebenfalls zur Zufriedenheit Günther Quandts“, heißt es auf Seite 58. Und dort steht auch: 1916 verkaufte „Friedrich Paul das östlich von Wittstock gelegene Walkmühlengrundstück mit seinen 88 Morgen Ländereien, weil im Mühlengebäude auf gemeinsame Rechnung der drei Tuchfabriken für die Kriegsdauer eine Kunstwollfabrik eingerichtet werden sollte.“ Das bedeutet, dass beide Wassermühlen zumindest im Ersten Weltkrieg Kunst- beziehungsweise Reißwolle herstellten – was bisher kaum bekannt ist.

Die Scharfenberger Mühle liegt etwa zwei Kilometer südlich vom Wittstocker Stadtkern direkt an der Dosse und wurde schon 1375 erstmals erwähnt. Traditionell hat sie wohl vor allem Getreide vermahlen. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte sie dem nach Kolumbien ausgewanderten Müller Otto Gadischke. Zu DDR-Zeiten wurden dort Futtermittel hergestellt. Heute sind die vermutlich im 19. Jahrhundert errichteten Bauten an der Geschwister-Scholl-Straße 5 ruinös.

Die Walkmühle Dranse nutzte das Gefälle zwischen Dranser See und Baalsee. Sie befindet sich etwa 14 Kilometer östlich von Wittstock. Immerhin weist der Name der Mühle klar auf die Textilherstellung – das Walken von Wolltuchen – hin: Zu diesem Zweck soll sie laut Mühlenchronik auch 1705 für die Wittstocker Tuchmacher in Betrieb genommen worden sein. Allerdings wurde sie 1855 zu einer Getreidemühle umgebaut. 1871 brannte sie nach einer Staubexplosion ab und wurde 1880 wiederaufgebaut. 1905 wurde das Wasserrad der Mühle durch eine Turbine ersetzt. Ab 1960 wurde Getreide nur noch für Futtermittel geschrotet, der Betrieb dann 1980 stillgelegt. Die Technik der Getreidemühle ist bis heute vollständig erhalten, siehe:

https://walkmuehle-dranse.de/

Mit der Wasserkraft von Mühlen wurden einst ganz verschiedene Produktionen betrieben: Es gab Säge- und Pulvermühlen, ebenso Senf- und Papiermühlen und auch die für die Metallbearbeitung wichtigen Hammermühlen. Die Wasserkraft diente als Universalantrieb wie später Dampfmaschinen oder Elektromotoren. Der Umbau einer Mühle zur Reißwoll-Herstellung dürfte überschaubar gewesen sein. Denn die dafür notwendigen Wolllumpen mussten lediglich sortiert, gewaschen und gerissen werden. Ein von der 1988 geschlossenen Spinnerei Willführ in Tangermünde angetriebener Lumpenreißer ist im Tuchmacher Museum Bramsche bei Osnabrück zu sehen:

https://nds.museum-digital.de/index.php?t=objekt&oges=5103

Auch im LVR-Freilichtmuseum in Lindlar im Bergischen Land gibt es einen Lumpenreißer. Außerdem steht daneben im translozierten Müllershammer eine Wollwaschmaschine. Das Mühlengebäude wurde als wasserkraftbetriebenes Hammerwerk errichtet, verarbeitete zunächst Eisen und wurde schon 1884 zu einer Lumpenreißerei umgebaut. Siehe:

https://www.kuladig.de/Objektansicht/O-83266-20140109-2

und:

https://freilichtmuseum-lindlar.lvr.de/de/museum/gebaeude/oberlingenbach/muellershammer_1/muellershammer_1.html

Zudem bestand „Reißwolle“ wohl keineswegs immer aus Schurwolle: Der Begriff hat aber eine gewisse Tradition, weil einst nur Lumpen aus der wertvollen Schafswolle gerissen und zu neuen Textilien weiterverarbeitet wurden. Dann aber sei auch man auch dazu übergegangen, aus Pflanzenfasern sowie aus Kunstseide bestehende Lumpen zu verwerten, erläutern Eitel Riediger und Erich Büchner in dem Buch „Reißwolle – ein fast unerschöpflicher Rohstoff“ (Leipzig 1952). Auch dieses Gemisch wurde als Reißwolle bezeichnet. Allerdings mussten pflanzliche und tierische Fasern getrennt werden, um sie als Rohstoff für die Papierindustrie sowie für neue Textilien sinnvoll weiterverarbeiten zu können.

Die Wiederverwertung von Alttextilien aus Schafswolle soll gegen 1849 in Deutschland Fuß gefasst haben. Denn England hatte den Einfuhrzoll für Reißwolle 1844 aufgehoben. Die Deutschen erkannten das Geschäft und die hiesige Reißwollindustrie wuchs bis zum Ersten Weltkrieg erheblich, exportierte große Mengen – auch nach England: Die Zentren der deutschen Reißwollindustrie lagen im Rheinland, der Lausitz, in Wittenberge und im Raum Berlin, dann auch in Thüringen und dem Vogtland, schreiben Riediger und Büchner. Nach ihren Worten hatte eine kleine Schar von Enthusiasten angesichts der Rohstoffknappheit auch in der DDR mit der Reißwolle Großes vor, zumal aus ihrer Sicht die technische Verarbeitung so weit fortgeschritten war, dass die Endprodukte daraus vollwertige Textilien gewesen seien. Tatsächlich eroberten dann Kunstfasern (chemisch aufbereitete Pflanzenfasern) und vollsynthetisch hergestellte Fasern dann den Markt, nicht nur in der DDR.

Interessanterweise war der Begriff „Kunstwolle“ schon im Dritten Reich mit Nachdruck durch „Reißwolle“ ersetzt worden, weil ersterer „teils unberechtigterweise etwas Herabsetzendes“ hatte, (…) zudem damit etwas Künstliches (Synthetisches) im Gegensatz zu Natürlichem verbunden werde, schreibt Hans Richard Plum in dem Band „Die Reißwolle“ (Berlin 1938). Mit Reißwolle würden im Allgemeinen die durch mechanische Aufarbeitung von Alttextilien wiedergewonnenen wollenen Spinnstoffe bezeichnet, so Plum weiter. Dabei würden die daraus für die Spinnerei hergestellten Streichgarne deutlich zu den daraus produzierten Wollfilzen (für Polsterwolle) abgegrenzt.

Die Walkmühle Dranse war 1705 für die Tuchmacher in Wittstock entstanden, brannte 1871 ab und diente später für die Reißwoll-Herstellung. Foto: Werner Buzan / Wikimedia Commons, 2018

Eine Wassermühle im Wittstocker Ortsteil Scharfenberg gibt es seit mindestens 1375. Überwiegend wurde hier Getreide vermahlen, aber eben auch Reißwolle produziert. Foto: Sven Bardua, 2022
„Lumpen werden im Reißwolf zu Reißwolle verarbeitet“, steht auf einem Dia, das an einem unbekannten Ort in den 1930er Jahren zu Unterrichtszwecken angefertigt wurde. Foto: Litofa / Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht

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