PERSPEKTIVEN

Es ist nicht das Einfachste, fernab von Galerien und Kunstpublikum bildende Kunst öffentlich wahrnehmbar zu machen. Insofern sind unsere Open-air-Ausstellungen „irgendwo im Nirgendwo“ immer ambitionierte Vorhaben. Umso erfreulicher, dass es Partner gibt, die die Relevanz unserer künstlerischen Auseinandersetzung – gerade auf dem Land, wo das Thema Faserstoffe historisch verankert und heute virulent ist – erkennen und wertschätzen. Einer der wichtigsten Partner dabei ist der Landschaftspflegeverband Prignitz-Ruppiner Land e.V., der mit seinem Kompetenznetzwerk Nutzhanf seit 2018 auf die ökologischen und ackerbaulichen Vorteile von Hanf aufmerksam macht und sich dafür einsetzt, regionale und nachhaltige Wirtschaftskreisläufe dafür aufzubauen. Hier die Rede des Vereinsvorsitzenden ANDREAS BERGMANN zur Vernissage.

„Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Künstler*innen,
Kunst schafft Perspektivwechsel, unter diesem Motto möchte ich die heutige Einladung von Ihnen nutzen, heute hier sprechen zu dürfen! Ich persönlich habe als Agraringenieur eine naturwissenschaftliche Ausbildung, das heißt aus Sicht der Ausbildung und meines Werdegangs also relativ weit entfernt von der Kunst im eigentlichen …
Daher habe ich mich gefragt, was bedeutet die Kunst für mich, oder allgemeiner: Welche Funktion oder welche Rolle spielt sie für uns in der Gesellschaft? Und es gibt natürlich unglaublich viele Funktionen und Rollen, die die Kunst einnimmt. Bei weitem würde ich mir nicht anmaßen, das auch nur im Ansatz zu überblicken.
Aber eine Funktion ist mir bereits im vergangenen Jahr klargeworden, als ich mit Ihnen, dem paho-Künstlernetzwerk, das erste Mal in Kontakt gekommen bin: Das ist der Perspektivwechsel, den die Kunst für jeden persönlich – aber auch für eine ganze Gesellschaft -, bringen kann. Kunst öffnet den Blick, erweitert den Horizont …
Ich hätte mir vorher nie träumen lassen, mal auf einer Vernissage zum Thema Hanf eine kleine Rede halten zu dürfen. Ich hätte mir auch nicht träumen lassen, dass Hanf, diese alte Kulturpflanze, zum Gegenstand beziehungsweise zum Material und auch zum Thema aktiver künstlerischer Gestaltung im 21. Jahrhundert würde … Und das noch ausgerechnet in unserer strukturschwachen Region! Da haben sie bei mir – ganz persönlich – schon für einen ordentlichen Perspektivwechsel gesorgt!
Den Beitrag, den Sie damit leisten, finde ich enorm! Hanf wird von den meisten Menschen als Droge gesehen, die einen sehen sie als Teufelszeug, die anderen fordern die Legalisierung. Beide Perspektiven dominieren den gesellschaftlichen Diskurs. Jetzt soll die Legalisierung von Hanf als Droge kommen, die Diskussion dazu läuft in voller Intensität. Aber immer noch dominiert die drogenpolitische Perspektive.

Nun haben Sie – zumindest für mich – diesen neuen Blick aus der künstlerischen Perspektive geschaffen. Und Sie stellen mit Ihren Projekten Fragen: zur Geschichte, zur Anbaukultur, zur regionalen Entwicklung und zu vielen anderen Aspekten der Kulturpflanze. Sie leisten mir Ihren Beiträgen eine Erweiterung des Horizonts: weg von der drogenpolitischen Dauerschleife, die uns alle seit langem nervt – hin zu kulturellen und künstlerischen Aspekten.
Den Landschaftspflegeverband Prignitz-Ruppiner Land haben wir vor fünf Jahren in Wittstock gegründet, seit vier Jahren beschäftigen wir uns mit dem Thema Nutzhanfanbau. Die Perspektive, die wir seinerzeit hatten, war landwirtschaftlich geprägt: Einige Pioniere aus der Landwirtschaft in unserem Verein haben Hanf als Nutzpflanze angebaut und aus ihrer Sicht drauf geschaut: Wie wird Hanf angebaut? Welchen landwirtschaftlichen Nutzen bringt die Pflanze: ackerbaulich, betriebswirtschaftlich, möglicherweise ökologisch?
Dann sind wir mit Ihnen vor zwei Jahren erstmalig zusammengekommen und haben diskutiert, ob mit Hanfprodukten nicht auch künstlerisch gearbeitet werden kann. Ihre Offenheit und Ihr Interesse kamen mit unserer Suche aus agrar-ökologischer Perspektive zusammen. Und das war fruchtbar!
Schon im letzten Jahr war das hier vor Ort zu sehen, und in diesem Jahr wieder! Wir haben Ihnen quasi frisches Material aus Hanfstroh gebracht, also Schäben und Fasermaterial, und Sie haben damit künstlerisch-kreativ gearbeitet. Darüber habe ich mich sehr gefreut! Und ich bin gespannt, was ich in diesem Jahr entdecke …
Sie haben mit Ihrer letztjährigen Arbeit für uns die Perspektive auf die regionale Geschichte des Anbaus und der Verarbeitung von Faserhanf gerichtet. Ich musste feststellen, dass wir in unserer Projektgruppe so gut wie nichts darüber wussten. Wir haben Ihre Anregung aufgenommen und sie in einer vor kurzem erschienenen Broschüre über Nutzhanf aufgenommen. Diese Broschüre wiederum hat uns bei der Beantragung von Fördermitteln geholfen, sodass wir unsere Arbeit in den kommenden Jahren fortsetzen können. Wir werden inzwischen in einem weitaus größeren Umfang wahrgenommen als noch vor zwei Jahren zum Beispiel. Einladungen von der Politik, der Wissenschaft oder von Wirtschaftsforen beweisen das.

Und diese gegenseitige Befruchtung zieht Kreise. Unsere Arbeit am Nutzhanf, Ihre Kunstaktionen zum Thema schaffen Öffentlichkeit. Sie schaffen Aufmerksamkeit. Und diese Wirkung bringt wiederum neue Akteure und damit neue Perspektiven ins Spiel. Dabei geraten wir aktuell in eine neue Phase der Entwicklung:
Letzte Woche Freitag haben wir einen Feldtag zum Hanfanbau in Zempow durchgeführt und es gab einige wesentliche Neuigkeiten zu erfahren: So wird noch in diesem Jahr in einem Gewerbegebiet bei Neuruppin eine neue Fabrik für die Verarbeitung von Hanf zu Textilien gebaut. Das bedeutet für unsere Region die Möglichkeit, den Anbau von Nutzhanf von derzeit rund 600 ha auf über 5000 ha zu erweitern.
Auch das wird die Perspektive wieder verändern: Hanf wird wieder häufiger als Kulturpflanze in unserer Region vorkommen. Die Touristen, die in den vergangenen Jahren in die Hanffelder bei Wittstock gekommen sind, um „coole Selfies“ im Hanffeld zu machen, brauchen künftig nicht mehr so weit fahren und so lange suchen, um ein Feld zu finden. Möglicherweise geht die Coolness der Selfies verloren. Das wäre aus meiner Sicht verkraftbar.
Und diese Entwicklung bringt weitere, spannende Perspektiven:

  • für Landwirte über die Erweiterung des Anbauspektrums
  • für hochwertige Arbeitsplätze in der Hanf-Verarbeitung
  • für neue, moderne, das heißt nachhaltige und zeitgemäße Produkte (zum Beispiel Matratzenhersteller aus Italien …)
  • für eine ökologisch verträgliche und klimaschonende Produktion

Das Potential von Nutzhanf für mehr regionale Wertschöpfung in Verbindung mit wachsender Nachhaltigkeit ist groß. Wir reden bislang vor allem über Nahrungsmittel und Wellnessprodukte, wenn ich die aktuelle Erzeugung von Hanf in unserer Region sehe. Also die Erzeugung zum Beispiel von Hanföl als Speiseöl oder die CBD-Produktion. (CBD vor allem als Wellness- oder Lifestyle-Produkt).
Die Perspektive der Nachhaltigkeit in Bezug auf Hanf steht bislang eher im Schatten, aktuelle Entwicklungen zu den Themen Textilien oder Baustoffe aus dem Hanfstroh stehen noch ganz am Anfang, aber ermöglichen qualitative Sprünge in Sachen Nachhaltigkeit. So wollen wir in den nächsten Jahren in Feldversuchen in der Prignitz ermitteln, wie viel CO2 sich pro Hektar langfristig binden und fixieren lässt, wenn Hanf hier angebaut wird und als Baustoff Verwertung findet. Kann das einen Beitrag zum Klimaschutz bringen und wie hoch könnte er werden? Dazu arbeiten wir mit der Hochschule Neubrandenburg und mit dem Potsdam Institut für Klimafolgenforschung zusammen. Ich hoffe, dass wir in einigen Jahren dazu erste Ergebnisse präsentieren können.
Aber nun zur Schluss-Perspektive: Ich wünsche mir, dass wir – und damit meine ich jetzt uns hier in dieser Runde – diese Entwicklung künftig weiter gemeinsam begleiten. Ihre Fragen, Ihre Erweiterungen der Perspektiven, die Sie uns aus Ihrer Sicht – der Kunst – geschenkt haben und schenken, sind relevant. Ich möchte sie in der Zukunft nicht missen. Und ich möchte an Sie appellieren, am Ball zu bleiben (speziell am Hanf …). Daher wünsche ich mir eine weitere, fruchtbare Zusammenarbeit und gegenseitige Bereicherung. Vielen Dank für Ihre Arbeit, für Ihr Angebot der Zusammenarbeit und weiter ein gutes Gelingen!“

Andreas Bergmann erläutert den Hanfanbau. Fotos: PWM

2 Gedanken zu „PERSPEKTIVEN“

  1. Den Anbau von Nutzhanf in der Region auf 5000 ha erweitern – ein kleines, aber ermunterndes Zeichen, dass Zukunftsentwicklung möglich ist! Mich macht das froh.

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